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Wie man einen Pornofilm erkennt

Ich weiß nicht, ob es Ihnen je widerfahren ist, einen Pornofilm zu sehen. Ich meine nicht einen Film, der erotische Szenen enthält, seien sie auch verletzend für das Schamgefühl vieler, wie zum Beispiel „Der letzte Tango in Paris“. Ich meine pornographische Filme, deren einziger Zweck es ist, das sexuelle Verlangen des Zuschauers zu stimulieren, von Anfang bis Ende und dergestalt, daß, während dieses Verlangen mit Bildern diverser und variabler Paarungen stimuliert wird, der Rest so gut wie nichts zählt.

Oft müssen die Gerichte entscheiden, ob ein Film rein pornographisch ist oder einen künstlerischen Wert hat. Ich gehöre nicht zu denen, die meinen, daß der künstlerische Wert alles entschuldige, manchmal sind echte Kunstwerke gefährlicher für den Glauben, die Sitten, die gängigen Meinungen als Werke von minderem Wert. Des weiteren meine ich, daß Erwachsene das Recht haben, pornographisches Material zu konsumieren, so sie es wünschen, zumindest in Ermangelung von Besserem. Aber ich gebe zu, daß manchmal vor Gericht entschieden werden muß, ob ein Film produziert worden ist, um bestimmte ästhetische Konzepte oder Ideale auszudrücken (sei's auch mit Szenen, die das allgemeine Schamgefühl verletzen), oder ob er zu dem einzigen Zweck gemacht worden ist, den Zuschauer scharfzumachen.

Nun gibt es tatsächlich ein Kriterium, das zu entscheiden erlaubt, ob ein Film pornographisch ist oder nicht, und es beruht auf der Berechnung der toten Zeiten. Ein großes Meisterwerk der gesamten Filmgeschichte, der Western „Stagecoach“ von John Ford, spielt die ganze Zeit über (außer zu Beginn, in kurzen Zwischenphasen und am Ende) in einer Postkutsche. Aber ohne diese rasante Postkutschenfahrt hätte der Film keinen Sinn. „L'avventura“ von Antonioni besteht nur aus toten Zeiten: die Leute gehen, kommen, reden, verlieren sich und finden sich wieder, ohne daß irgend etwas geschieht. Aber der Film will uns ebendies sagen, daß nichts geschieht. Er mag uns gefallen oder nicht, aber genau das ist seine Aussage.

Ein pornographischer Film dagegen sagt uns, um den Erwerb der Kinokarte oder der Videokassette zu rechtfertigen, daß ein paar Leute sich sexuell paaren, Männer mit Frauen, Männer mit Männern, Frauen mit Frauen, Frauen mit Hunden oder Pferden (ich mache darauf aufmerksam, daß es keine pornographischen Filme gibt, in denen Männer sich mit Stuten oder Hündinnen paaren: warum nicht?). Das alles würde ja noch angehen, aber in diesen Filmen wimmelt es von toten Zeiten.

Wenn Gilberto in Mailand, um Gilberta zu vergewaltigen, von der Piazza Cordusio bis zum Corso Buenos Aires fahren muß, so zeigt uns der Film, wie Gilberto, am Steuer sitzend, Ampel für Ampel die ganze Strecke zurücklegt.

In pornographischen Filmen wimmelt es von Leuten, die in Autos steigen und Kilometer um Kilometer fahren, von Paaren, die eine unglaubliche Zeit damit verbringen, sich in Hotels an der Rezeption einzuschreiben, von Herren, die minutenlang in aufwärtsfahrenden Aufzügen stehen, bevor sie endlich ins Zimmer gehen, von Mädchen, die allerlei Liköre schlürfen und mit Hemdchen und Spitzenhöschen herumtändeln, ehe sie einander gestehen, daß sie Sappho lieber als Don Juan mögen. Um es deutlich und derb zu sagen: Bevor man in pornographischen Filmen einen richtigen Fick zu sehen kriegt, muß man einen Werbespot des städtischen Verkehrsreferats über sich ergehen lassen.

Die Gründe liegen auf der Hand. Ein Film, in dem Gilberto andauernd Gilberta vergewaltigt, von vorne, von hinten und von der Seite, wäre nicht zu ertragen. Weder physisch für die Akteure noch ökonomisch für den Produzenten. Und er wäre es auch nicht psychologisch für den Zuschauer. Denn damit die Übertretung als solche kenntlich wird, muß sie sich von einem Hintergrund von Normalität abheben. Die Darstellung der Normalität aber ist nun eine der schwierigsten Aufgaben für jeden Künstler - während die Darstellung des Abweichenden, des Verbrechens, der Vergewaltigung, der Folter ein Kinderspiel ist.

Deswegen muß der pornographische Film die Normalität darstellen - die eben unverzichtbar ist, damit die Übertretung Interesse weckt -, und zwar so, wie jeder Zuschauer sie versteht. Deswegen sieht man, wenn Gilberto den Bus nehmen und von A nach B fahren muß, Gilberto, wie er den Bus nimmt, und den Bus, wie er von A nach B fährt.

Das irritiert den Zuschauer oft, weil er ständig unerhörte Szenen sehen will. Aber er täuscht sich. Er würde es gar nicht aushalten, anderthalb Stunden lang unerhörte Szenen zu sehen. Darum sind die toten Zeiten unverzichtbar.

Ich wiederhole also. Man gehe in irgendein Kino. Wenn die Protagonisten des Films länger brauchen, um sich von A nach B zu begeben, als man es sehen möchte, dann handelt es sich um einen Pornofilm.

(1989)

aus: Umberto Eco - Wie man mit einem Lachs verreist und andere nützliche Ratschläge, 1992

Lippenborte

Alice ... (Artikel aus der taz, Ende 2007)

Eine Feministin wird 65

Frau Schwarzer und der Sex

Von Heide Oestreich

Sie ist die Grande Dame des deutschen Feminismus. Doch jüngere Frauen kritisieren Alice Schwarzers völlige Verdammung von Pornografie und Prostitution.

Alice Schwarzer wird am diesem Montag 65 Jahre alt - und ist immer noch kampagnenfähig. Landauf, landab spricht man über Prostitution und Pornografie, ihre beiden großen Themen in diesem Jahr. Sie kämpft weiter, Deutschlands Vorzeigefeministin, die schon viel ausgehalten hat: von Beleidigungen wie "Miss Hängetitt" aus den Siebzigerjahren bis zu den dümmlichen Witzchen eines Thomas Gottschalk wie neulich bei "Wetten, dass ?" Hartnäckig und schlagfertig hat sie dieses Dauermobbing pariert.

Dadurch ist sie zu einer Art Celebrity geworden, die in Talkshows und Ratesendungen sitzt und mittlerweile auch fragwürdige Allianzen eingeht, wenn es der Popularität dient. So unterstützte sie die CDU-Kanzlerkandidatin Angela Merkel, auch wenn deren frauenpolitische Ambitionen begrenzt sind. Zuletzt warb sie sogar für die Bild-Zeitung, obwohl aus der immer noch der Sexismus trieft. Das diene alles der Sache der Frauen, verteidigte sie sich.

So einfach ist es in Alices Welt: für oder gegen "die Frauen". Selten werden die zu einem so einheitlichen Subjekt wie unter Schwarzers Fittichen. In ihrer Zeitschrift Emma wirken deshalb allzu oft alle Frauen wie Opfer und alle Männer wie Täter. Beim Lesen der Emma gewinnt man zudem den Eindruck, dass "die Frauen" nur eine Meinung haben: die Alice Schwarzers. Und das macht einigen Frauen, deren Vorkämpferin sie doch sein möchte, die Gratulation etwas schwerer.

PornYO-Feministinnen
Schon im Jahr 2000 schrieb die Grüne Jugend in einem offenen Brief an Schwarzer: "Junge Frauen können mit Diskussionen, die Frauen in erster Linie als Opfer von männlich geprägten Strukturen verstehen, nichts mehr anfangen." Und die Autorin Thea Dorn, die in ihrem Buch "Die neue F-Klasse" den Feminismus modernisieren möchte, sieht "unübersehbare Differenzen" zwischen ihrer Generation und "dem klassischen Siebzigerjahre-Feminismus".

Interessanterweise tauchen die größten Probleme, die andere Feministinnen mit Schwarzer haben, regelmäßig beim Thema Sexualität auf, dem einen der Lieblingsthema von Alice Schwarzer.

So legte sie diesen Herbst ihre "PorNO"-Kampagne aus den späten Achtzigerjahren wieder auf. "Pornografie ist Gewalt" hieß es auf dem Emma-Titelbild im September 2007. Pornoliebhaberinnen wundern sich: Denn Alice Schwarzer definiert Pornografie einfach um. Pornografie ist nicht die "grobe Darstellung des Sexuellen", wie etwa das Strafrecht sie definiert. Bei Schwarzer heißt es stattdessen, Pornografie verknüpfe "sexuelle Lust mit der Lust an Erniedrigung und Gewalt".

Aber was ist dann der normale Porno? Der ist irgendwie eingemeindet in die neue Definition. Im selben Text nämlich spricht Schwarzer anklagend von den Millionen von Pornoseiten, die sie im Internet findet. Nach ihrer Definition müssten die alle frauenverachtend oder gewalttätig sein. Dabei genügt ein kurzer Blick ins Netz, um zu sehen, dass da jede Menge Normalo-Sexseiten darunter sind.

"Man kann diese Dinge nicht über einen Kamm scheren", meint der Präsident der Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Sexualforschung, Jakob Pastötter, "sonst tut man vielen Leuten Unrecht". "Ganz normale Männer und Frauen" benutzten Pornos als Stimulanz, die wolle er nicht kriminalisieren, wie es mit einer neuen "PorNO"-Kampagne leicht passieren könne, meint der Forscher. "Und für den Porno gilt nun mal: Erlaubt ist, was beiden gefällt." Dazu könne gehören, dass Frauen und Männer masochistische Szenarien mögen. "Ein solcher S/M-Porno wäre nach der ,PorNO'-Definition aber schon ein Ding der Unmöglichkeit", sagt Pastötter.

Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch, die sich viel mit pornografischen Filmen beschäftigt hat, will das Probleme der erniedrigenden Pornos nicht leugnen. "Es ist wichtig, dass wir über Frauenhass in Pornografie sprechen", sagt sei und hält deshalb öffentlichen Kampagnen für sinnvoll. "Aber den Ruf nach einer Zensur, den ich bei Schwarzer immer heraushöre, sollten wir uns sparen", fügt sie hinzu.

Eine gesellschaftliche Debatte halten Pastötter und Koch für überfällig. Aber eine Verteufelung des Ganzen, wo man vielleicht nur bestimmte problematische Entwicklungen meint, stößt nicht nur in der Fachwelt auf Unverständnis, sondern ebenso bei jüngeren Frauen: "Womit ich überhaupt nichts mehr anfangen kann, ist dieser Hass auf Pornografie", sagt Fernsehmoderatorin Charlotte Roche in Dorns Buch. "Die Frau, die eine selbstbewusste Sexualität hat, fühlt sich bei den Sachen, wo die Feministin sofort ,erniedrigend' kreischt, nicht erniedrigt." Und die Schriftstellerin Tanja Dückers meint, dass Schwarzers Anliegen zwar sinnvoll, ihre Methoden aber "zum Teil antiquiert" seien. "Man kann nicht mehr einfach ,PorNO'-Aufkleber verteilen."

Es ist diese geradezu viktorianische Herangehensweise, die viele jüngere Feministinnen abschreckt. Doch Alice Schwarzer gemeindet auch diese jüngeren Frauen gern in ihr Freund-Feind-Schema ein. So findet sich im Antipornografie-Dossier der Emma ein Text der SZ-Autorin Meredith Haaf, in dem sie sich kritisch mit der erotischen Selbststilisierung junger Frauen auf der Internetplattform Myspace auseinandersetzt. Meredith Haaf versteht sich als Feministin, ihr Buch "Wir Alpha-Mädchen" erscheint im Frühjahr. Aber mit der "PorNO"-Kampagne möchte sie nichts zu tun haben. "Ich wusste nicht, dass mein Text Teil einer Antipornokampagne werden sollte. Da passt er nämlich nicht hinein. Ich bin pro Porno und nicht gegen Porno", sagt sie.

Der weibliche Körper steht auch bei Schwarzers zweitem Lieblingsthema im Mittelpunkt: der Prostitution. Anfang des Jahres erschien in der Emma wieder einmal ein großes Dossier dazu. Prostituierte sind für Alice Schwarzer Frauen, die ein Mann kaufen kann "wie eine Ware". Dass sie selbst sich auch als Dienstleisterinnen und sich damit durchaus als Subjekte sehen, ist damit undenkbar. Vielmehr folgt aus dieser These, dass Prostitution ein "Verstoß gegen die Menschenwürde" sei. Ein Verstoß gegen die Menschenwürde würde bedeuten, dass ein Grundrecht verletzt wird. Folglich müsste man Prostitution verbieten. Will sie das? So klar mag Schwarzer das nicht sagen. Vielleicht ahnt auch sie, dass man damit die Probleme der Prostituierten nicht löst, sondern durch die Illegalisierung neue schafft.

Aber was will sie stattdessen sagen? Die schlechten Arbeitsbedingungen der Prostituierten, die sozialen Zwänge, in denen sie leben, die oft reichlich verdinglichte Sprache der Freier, die sich nicht darum scheren, ob die von ihnen besuchte Frau eventuell zur Prostitution gezwungen wird - all dies sind durchaus skandalöse Zustände. Bei Schwarzer aber bebildern sie ihre These von der Verderbtheit der ganzen Sache. Es sind nicht einzelne Freier oder Zuhälter, die gegen die Menschenwürde verstoßen, es ist die Prostitution an sich.

Die kleinen Unterschiede
"Sie stellt nur die eine Seite der Prostitution dar," meint die Pressereferentin des Sozialdienstes katholischer Frauen, Claudia Steinborn. Der Sozialdienst betreibt in Dortmund und weiteren Städten Ausstiegsprojekte für Prostituierte. "Wir sehen durchaus auch das Elend der Straßenprostitution oder das Problem der Opfer von Menschenhandel. Aber es gibt eben auch die selbstbewusste Prostituierte, die in diesem Beruf arbeiten will." Schwarzer aber meint: "Die von der Hurenbewegung propagierte (?) Grenze zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Prostitution ist künstlich." So wird unversehens die Zwangsprostitution zum Prototyp der Prostitution: Zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 würden 40.000 zusätzliche Prostituierte erwartet, geisterte durch die Medien. In der Emma wurden daraus "40.000 Zwangsprostituierte".

Der Dachverband der Hurenberatungsstellen ist davon überzeugt, dass Prostitution auch ein Beruf sein kann, wenn auch in einem extrem schwierigen Milieu. Und das sagten sie auch, wenn die Emma bei ihnen anrief. "Unsere Zitate sind dann oft so wiedergegeben worden, dass wir uns nicht mehr wiedererkannt haben. Wir haben daraufhin beschlossen, der Emma bis auf weiteres keine Interviews mehr zu geben", so Steinborn. In der Emma heißt es zu diesem Sachverhalt, der Dachverband sei "pro-Prostitution" und "diktiere" diese Haltung allen Mitgliedern. "Aufgrund der kritischen Berichterstattung" der Emma habe er ein "Kontaktverbot" beschlossen.

Es ist eine gewisse Feindlichkeit gegenüber verbotenen Gelüsten des weiblichen Körpers, der bei der Behandlung dieser Themen immer wieder aufscheint. Und diese Haltung scheint die Scheidelinie zu den jüngeren Feministinnen zu markieren. "Auf den Körper reduziert zu werden" galt lange Zeit als Abwertung der Frau. Die Romanistin Barbara Vinken, die mit ihrem Buch "Die deutsche Mutter" eine der wichtigsten Analysen zum deutschen Frauenbild verfasst hat, sieht darin eine Nachwirkung eines modernen Subjektbegriffs, "der Frauen aufgrund ihrer sie angeblich ganz bestimmenden Geschlechtlichkeit aus der öffentlichen Sphäre verbannt". Nur wer diesem Schema folgt, kann in der Körperlichkeit der Frau eine Bedrohung sehen und muss panisch darauf bedacht sein, nicht auf diesen "reduziert zu werden". Dass ein weibliches Subjekt mit seinem Körper und seiner Geschlechtlichkeit in der Öffentlichkeit spielt, daraus gar Kapital macht, sieht Schwarzer als Rückfall in die vom Mann zugewiesen Position. Vielleicht war das der Grund, warum sich Schwarzer von Verona Pooth, so provoziert fühlte.

"Alice Schwarzer ist ein Symptom für den deutschen Kontext. In der deutschen Debatte herrscht immer noch der männliche Geist über den weiblichen Körper", meint Vinken. Weshalb Alice Schwarzer ihr Heil in der Verleugnung der weiblichen Gelüste suche. In Frankreich und in den Vereinigten Staaten sei die Diskussion um die Differenz zwischen den Geschlechtern schon weiter.

So manche junge Feministin scheint ein anderes Konzept von Körperlichkeit zu haben, als es Schwarzer in ihrer Zeit möglich war. Nicht nur das spricht dafür, dass heute eine neue Generation die Staffel zu übernehmen. Eine Generation, die eine neue Antwort auf die Frage nach dem kleinen Unterschied findet.

taz-Artikel vom 1.12.2007

Lippenborte

Der folgende Arikel stammt aus dem Stern. Deshalb muß man vermutlich 50% abziehen - interessant bleibt das Thema trotzdem ...

Sexuelle Verwahrlosung

Voll Porno!

Von Walter Wüllenweber

Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist. Eltern schauen mit ihren Kindern Hardcore-Filme. 14-Jährige treffen sich zum Gruppensex. Ihre Idole singen von Vergewaltigung. Ein Teil der Gesellschaft driftet ab in die sexuelle Verwahrlosung.

Etwas fehlt. Man bemerkt es nicht sofort. Auch Thomas Rüth hat eine Zeit gebraucht, bis ihm klar wurde, was er vermisst, was ihn beunruhigt. Beim Beobachten von Jugendlichen ist ihm aufgefallen: "Wenn die mit jemandem gehen, dann küssen sie sich nicht." Sie sind 12, 13 oder 14 Jahre alt und halten nicht Händchen und streicheln sich nicht. Dabei sind sie nicht schüchtern. Im Gegenteil. Viele dieser Kinder haben selbstverständlich Sex miteinander.
Thomas Rüth ist Sozialpädagoge. Er leitet das Jugendhilfe-Netzwerk der Arbeiterwohlfahrt in Essen-Katernberg, einem Bezirk mit besonders großen sozialen Problemen. Regelmäßig besuchen er und seine Kollegen Familien, die ohne Hilfe nicht mehr klarkommen. Wenn die Sozialarbeiter zu Besuch sind, flimmert in den Wohnstuben fast immer die Glotze. Doch nicht jedes Mal läuft dort der Nachmittagsmüll von RTL 2. Immer öfter kommt das Programm aus dem DVD-Spieler: Pornos. Und die Kinder sitzen mit auf dem Sofa.
Jugendliche küssen sich nicht. Kinder gucken Pornos. Beides hat was miteinander zu tun. Im Porno küsst man sich nicht. "Viele dieser Kinder wachsen im emotionalen Notstandsgebiet auf. Die wissen alles, wirklich alles über sexuelle Praktiken. Aber wenn wir denen etwas über Liebe erzählen, über Zärtlichkeit, dann verstehen die überhaupt nicht, wovon wir reden", sagt Thomas Rüth. Genau das ist es, was fehlt.

"Porno - wie eine Seuche"
"Die Kinder sind voll mit diesen Bildern. Und die kriegen sie nicht aus dem Kopf", sagt Gabriele Heinemann. Auch sie ist Sozialarbeiterin. Sie kümmert sich um Mädchen in Berlin-Neukölln, Deutschlands bekanntestem Problembezirk. Madonna heißt der Klub, den sie leitet. Vor drei Jahren hat sie zum ersten Mal das Wort "Gang-Bang" gehört. Eine 14-jährige Neuköllner Göre prahlte: "Am Sonnabend mach ick Gang-Bang." Heinemann recherchierte, was das bedeutet: Gang - die Bande. Gang-Bang - eine ganze Bande Männer fällt über eine Frau her. Ein Standard in aktuellen Pornofilmen. "Zuerst dachte ich, die Kleine will sich nur wichtig machen. Aber das war wirklich so. Und es breitet sich aus wie eine Seuche."
In vielen Jugendklubs in Berliner Unterschichtsvierteln bereitet die Sexualität der Heranwachsenden den Betreuern ähnliche Sorgen wie deren Gewalt. Viele trauen sich nicht mehr, 14-Jährige längere Zeit in einem Raum allein zu lassen. Sie fürchten, bei ihrer Rückkehr Jungs mit heruntergelassenen Hosen vorzufinden. Und davor knien Mädchen. Das ist mehrfach vorgekommen. "Das Bild unserer Jugendlichen von Sexualität ist total geprägt von Pornografie", sagt Gabriele Heinemann.

Mutter hat Sex - Kind schaut zu
Die Klage über lockere Sexualmoral ist älter als der Minirock. Doch diesmal warnen keine verklemmten Spießer, Fundamentalfeministinnen oder prüde Kirchenmänner. Es sind Lehrer, Sozialpädagogen, Erziehungswissenschaftler, Hirnforscher, Therapeuten, Sexualwissenschaftler und Beamte in Jugendämtern. Sie beobachten nichts Geringeres als eine sexuelle Revolution. Doch dabei geht es nicht um freie Liebe. Mit Freiheit und mit Liebe hat es nichts zu tun. Der Motor für diese Umwälzung der Sexualität sind keine Ideale. Es ist Pornografie. Womit Thomas Rüth oder Gabriele Heinemann täglich konfrontiert werden, ist eine Form der Verwahrlosung: sexuelle Verwahrlosung.
Jeden Nachmittag beobachtete die Streetworkerin Ayten Köse eine Gruppe Jungen, die auf der Straße direkt vor ihrem Neuköllner Büro rumhingen. "Die waren so neun, zehn Jahre alt. Und ständig haben sie den einen gehänselt. Es wurde immer schlimmer", erzählt sie. Schließlich sprach sie den Jungen an. Der druckste rum. Es sei, na ja, wegen seiner Mutter, ihren Männern und so. Die Mutter veranstaltete kleine Shows für den Sohn und seine Freunde. Wenn die ihn zu Hause besuchten, dann zeigte sie ihnen gern einen Pornofilm. Ab und zu durften sie auch zuschauen, wie sie mit einem Liebhaber Sex hatte. "Natürlich habe ich die Mutter angesprochen", sagt Ayten Köse. "Aber die hat nur gesagt: "Ich weiß gar nicht, was sie wollen. Das ist doch nur Sex. Ist doch ganz normal"."
Bernd Siggelkow ist ein evangelischer Pfarrer. "Bernd, Bernd. Trägst du Tangas?", ruft eine Neunjährige durch den Speisesaal. "Der Freund von meiner Mutter hat immer so superscharfe Dinger an." Siggelkow lächelt etwas verlegen. 1995 hat er in Berlin-Hellersdorf die "Arche" gegründet. Dort finden die Kinder aus dem Viertel, was sie in ihren Familien nicht bekommen: Zuwendung, Erwachsene, die sich mit ihnen beschäftigen, und eine warme Mahlzeit. In den vergangenen Jahren hat Siggelkow eine deutliche Veränderung an den Kindern festgestellt. "Das Leben dieser Kinder ist komplett sexualisiert", sagt Siggelkow. Oft kommen die Kinder mit ihren Problemen zu ihm. "Gerade gestern erst wieder eine Elfjährige. Die wollte wissen, ob sie noch normal ist, weil sie noch nie Sex hatte."
Wenn Siggelkow mit den Eltern der Arche-Kinder spricht, dann fast immer mit den Müttern. "Väter gibt's hier nicht." Manche Mütter beklagen sich, dass ihre Kinder sie stören. "Dann frage ich, wobei die stören. Und die antworten: beim Sex." Siggelkow trifft Mütter, die sich entscheiden, "mal lesbisch auszuprobieren". Weil sie es im Porno so schön finden. Er trifft Mütter, die nicht verstehen, dass es ihre Kinder verstört, wenn sie beim Sex mit fremden Männern die Schlafzimmertür offen lassen. Er trifft Mütter, "bei denen Sex das absolute Highlight ihres Lebens ist". Meistens das einzige.

Sex als Erfolgserlebnis
Die Beziehungen verändern sich rasant, insbesondere in der Unterschicht. Die Männer sind häufig nicht mehr die Ernährer der Familie. Diese Rolle übernimmt immer öfter der Staat. Das macht es den Partnern leichter, sich zu trennen. Männer und Frauen sind immer weniger eine ökonomische Einheit, immer weniger Schicksalsgemeinschaft, immer weniger Lebenspartner. Was bleibt, ist die Sexualität. Sie bekommt eine neue Wichtigkeit. Gerade im Leben vieler Frauen. Ohne gute Schulbildung, ohne Berufsausbildung haben Frauen heute keine realistische Chance auf einen guten Job. Für Frauen aus der Unterschicht ist es daher häufig schwierig, Anerkennung zu erfahren, gelobt zu werden, erfolgreich zu sein. Doch in der Sexualität, da können sie "erfolgreich" sein. Die Sexualität wird umgedeutet. Sie bekommt eine neue Rolle, eine neue Funktion im Leben. Sex wird das, was für andere der Beruf ist, das Studium, der Sport oder das Spielen eines Instruments - die Möglichkeit, den eigenen Ehrgeiz auszuleben und zu befriedigen.
"Das Dumme ist nur: Es klappt nicht", sagt Thomas Rüth aus Essen. "Wir beobachten das mit Sorge. Viele Frauen leiden wirklich unter dieser Art der Sexualität." Der Leistungsdruck überfordert sie.

Einfluss von Porno kaum erforscht
Wie viele Menschen häufig Pornos gucken und wie das ihre Sexualität und Persönlichkeit verändert, "das erforscht hierzulande leider niemand", sagt Volkmar Sigusch, der Altvater der deutschen Sexualwissenschaft. Die jüngste Studie dazu habe er noch selbst gemacht. Wann, daran erinnert sich der 66-Jährige nicht genau. Aber an die Methode: Er hat Versuchspersonen Pornodias gezeigt. Dias! Damals gab es noch keine Videos, keine DVDs, erst recht kein Internet.
"Der Forschungsstand zur Pornografie ist in Deutschland wirklich dünn", sagt Professor Jakob Pastötter. Er hat eine Doktorarbeit zum Thema Pornografie geschrieben, allerdings am Kinsey-Institut in den USA. Heute ist er Präsident der Deutschen Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Sexualforschung. "Man kann die Auswirkungen, die permanenter Pornokonsum vor allem in der Unterschicht hat, überhaupt nicht überschätzen", sagt Jakob Pastötter. Die Ästhetik, die Sprache, das Verhalten in Pornofilmen - "das alles entwickelt sich zu Rollenvorbildern für die, denen die Vorbilder abhandengekommen sind." Jakob Pastötter sagt: "Pornografie wird zur Leitkultur der Unterschicht."
Natürlich guckt die gesamte Gesellschaft Pornos, nicht nur die Unterschicht. "Aber die Unterschicht konsumiert mehr Pornos. Oft täglich", sagt Pastötter. Ein wichtiges Merkmal des Alltags unterschiedlicher Schichten ist ihr Umgang mit Medien. Menschen mit niedriger Bildung hocken länger vor der Glotze und schauen andere Programme als der Schnitt der Gesellschaft. Der Kriminologe Christian Pfeiffer nennt das "mediale Verwahrlosung". Nahtlos geht alles ineinander über: Trash-Talk-Shows am Nachmittag mit Live-Vaterschaftstest oder gepiercten Müttern, die es mit Freunden ihrer Töchter treiben, Pornos am Abend und dazwischen die eigene Sexualität. Die Grenzen verschwimmen. Wer nie gelernt hat, kompetent mit Medien umzugehen, dem fällt es schwer, zwischen Fiktion und Realität zu trennen. Darum wirken Pornos auf unterschiedliche Menschen unterschiedlich. Auf Kinder ist die Wirkung am stärksten.

Kinder ahmen Pornostars nach
Kinder lernen durch Zuschauen und Nachahmen. Bisher war die Sexualität dabei stets eine Ausnahme. Sie fand nicht öffentlich statt. Junge Liebespaare haben die Liebe darum nicht "gelernt", sie haben sie "entdeckt". Heute können Kinder im Internet zu jeder Tageszeit unzählige Menschen beim Sex beobachten - und lernen so auch die Sexualität durchs Zuschauen. Vorbilder sind dabei keine Liebenden, die etwas füreinander empfinden. Die Standards setzen Nummern ohne jedes Gefühl, Intimitäten ohne Ansehen der Person.
Jakob Pastötter hat festgestellt: Die Filme sind deutlich härter und brutaler geworden. "Gerade für die Intensivnutzer der Pornografie muss der Reiz ständig gesteigert werden, sonst wirkt es nicht." Einen Film, in dem ein Mann und eine Frau einfach nur miteinander schlafen, womöglich gar zärtlich, das kauft heute kein Mensch mehr.
Was aber ist erfolgreich auf dem Pornomarkt? Was erregt die Kunden?
Venus, so heißt die weltweit größte Pornomesse. Jedes Jahr findet sie in Berlin statt, und jedes Jahr wächst sie um ein oder zwei Messehallen. Auf den Tresen der Messestände liegen Frauen zum public viewing aus. Männertrauben drängeln sich zwischen ihre Beine und lichten mit Digitalkameras ihre Körperöffnungen ab. Auf riesigen Leinwänden zeigt die Branche eine Leistungsschau des weiblichen Unterleibs. "Langsam wird's mir echt zu viel", sagt eine etwa 40-jährige Dame, die einen Stand mit unzähligen Porno-DVDs bewacht. Sie dachte, es wäre ein harmloser Messejob. "Erotik haben die gesagt. Aber was hat das hier mit Erotik zu tun. Alle paar Minuten kommt so ein Perverser und fragt mich, wo die Schwangerenpornos sind." Davon gibt es viele Regalmeter. Andere Renner sind Schmierereien mit Fäkalien. Und natürlich Gewalt in allen Variationen.

Lust auf Schmerzen und Gewalt
"Porno, das ist heute LifeStyle", sagt Gian Carlo Scalisi. Auf seiner Visitenkarte steht "Managing Director" von "21 Sextury Video". Seine Firma stellt äußerst erfolgreiche Pornofilme her. "Unsere Kunden kommen aus allen Schichten, nicht nur aus der Unterschicht", sagt Scalisi. "Mindestens 20, vielleicht sogar 25 Prozent sind Mittel- oder Oberschicht." Scalisis Kunden wollen "Gonzo-Filme". Das sind Pornos, die auf jede Rahmenhandlung verzichten. In einem Studio in München stellen die Produzenten eine Pritsche auf. Eine Frau wird daraufgelegt. Dann fallen drei oder vier Männer über sie her. Gang-Bang. Alle Darsteller, auch die Frauen, seien Amateure, beteuert Scalisi. Warum? "Amateure kommen viel besser rüber. Das spüren unsere Kunden. Bei den Frauen, ich meine, da sieht man: Die haben noch richtige Schmerzen."
Pornos, die sich heute gut verkaufen, sind keine Erotikfilme. Sie handeln von Gewalt. Gewalt mit Sex.
"Das find ich geil", sagt Melanie. Sie ist 19 Jahre alt, versucht gerade den Hauptschulabschluss nachzuholen und besucht mit ihrer Freundin die Venus. Die Freundin heißt auch Melanie und ist 20. Ihre Freunde sind nicht dabei, sie verbringen das Wochenende lieber bei einem Motorradrennen. Die Melanies haben schon früh angefangen, Pornos zu schauen. "So früh nun auch wieder nicht. Mit elf oder so. Ganz normal, wie die anderen auch", sagt die ältere Melanie. Ihre Mutter, bei der sie ohne Vater aufgewachsen ist, hatte immer einen Vorrat Videos und später DVDs im Regal. "Die hab ich natürlich auch angesehen." Bei der jüngeren Melanie war "das alles ganz genauso".
Die Melanies wissen, welche Filme ihnen gefallen. "Schon die härteren Sachen. Das andere kennt man alles schon." Oft drehen sich die Gespräche im Freundeskreis um den Inhalt neuester Pornos. "Klar, Sachen wie Gang-Bang, das sind schon Riesenthemen. Da reden alle drüber und fragen sich: Soll ich das machen?"
Machen Filme, in denen sexuelle Gewalt dargestellt wird, den Zuschauer gewalttätig, oder wirken sie eher wie ein Ventil? "Die Katharsis-Hypothese ist widerlegt. Wir wissen: Solche Filme wirken eindeutig verstärkend", sagt Professor Klaus Mathiak. Er ist Neurobiologe und Verhaltenspsychologe am Universitätsklinikum Aachen und leitet ein Forschungsprojekt, das die Wirkung von Gewaltmedien auf das Gehirn und auf das Verhalten des Menschen erforscht. Alles, was häufig wiederholt wird - der Tennisaufschlag, das Spielen eines Instruments, Vokabelnbüffeln -, verändert das Gehirn. Man lernt.
Auch Gewalt muss der Mensch lernen. Er muss eine Hemmschwelle überwinden. Boxer trainieren das mit speziellen Übungen. "Genauso funktionieren Gewalt-Computerspiele", sagt Mathiak. "Die Spieler können nur erfolgreich sein, wenn sie lernen, die Empathie mit ihren Opfern zu unterdrücken." Also das Mitgefühl. "Bei Spielern, die lange und intensiv spielen, können wir spezifische Veränderungen im Gehirn nachweisen." Bei Pornos, vor allem bei Gewaltpornos, wirkt derselbe Mechanismus. Bei jemandem, der sich laufend Gewaltsex und Gang-Bang-Szenen ansieht, bei denen die Frauen "echte Schmerzen" empfinden, bei dem verändert sich das Gehirn. "Vom Anblick leidender Menschen sexuell stimuliert zu werden, dazu muss man die Empathie ausschalten, sonst wirkt es nicht. Und das muss man erst lernen - indem man das immer und immer wieder anschaut."
Der pornografische Blick ist ein erlernter Blick. Wenn Pornografie schließlich zum Bestandteil des Alltags wird, verändert sich nicht nur die Sexualität eines Menschen, sondern sein ganzes Wesen. "Dann werden Sachen als normal empfunden, die man vorher als völlig unnormal empfunden hätte", sagt Professsor Mathiak.

Die Empfindung verloren
Menschen, die das Empfinden verloren haben für normal und krank, für natürlich und pervers, für schön und eklig, landen manchmal in der Beratungsstelle des Psychosozialen Dienstes in Neukölln. Im Sommer bekamen die Therapeuten dort Besuch von einer Mutter, deren sechsjähriger Sohn in der Schule aufgefallen war. Immer wieder hatte er in der Pause Mitschülerinnen in eine Ecke gezerrt. Er zog den Mädchen und sich selbst die Hosen runter und tat so, als hätte er Sex mit den Mädchen. Ein neues Spiel: Vergewaltigung. "Das denkt sich kein Sechsjähriger aus", sagt der Psychotherapeut Karl Wahlen, Leiter der Beratungsstelle. Die Mutter erzählte ganz freimütig, dass sie mit ihrem Freund regelmäßig Filme ansehe, in denen Vergewaltigungsszenen vorkommen. Und dass ihr Sohn dabei mitschauen dürfe.
"Wenn Kinder so etwas zusammen mit den Eltern sehen, verstärkt das die enthemmende Wirkung", sagt Wahlen. Das hat er auch der Mutter erklärt. Einige Wochen später kam sie wieder. Auf die Pornos zu verzichten hatten sie und ihr Freund nicht geschafft. Aber sie schauten nicht mehr gemeinsam mit dem Sohn. Der wurde in sein Zimmer geschickt. Um die Pornos dort zu gucken. Nur diesmal allein.
"Scham und Ekel funktionieren bei vielen fast gar nicht mehr. Die Grenzen lösen sich auf", sagt Karl Wahlen. Er betreut Mädchen, die irgendwo - auf der Tischtennisplatte, auf dem Kinderspielplatz oder unter einem Balkon des Wohnblocks - mit einer Gruppe Jungen Sex haben. Die gerade Untätigen filmen die Szenen mit ihren Handys und stellen die Filmchen ins Netz. "Die Konkurrenz, unter der die Mädchen beim Sex stehen, ist massiv", sagt Karl Wahlen. "In der Therapie wird schnell klar, dass die im Inneren spüren, dass ihnen das alles nicht guttut. Aber dann sagen sie oft: ,Was habe ich denn sonst?""

Die Helden: Bushido, Sido, Frauenarzt
Die Helden, die Idole dieser Kinder, heißen Sido, Bushido, Frauenarzt und King Orgasmus One. Es sind Porno-Rapper. Viele ihrer Songs werden nie im Radio gespielt, weil sie auf dem Index stehen. Sie sind als jugendgefährdend eingestuft. Trotzdem werden sie vorwiegend von Jugendlichen gehört. Und von Kindern. Im Internet kann sie jeder problemlos downloaden. Die Songs der Porno-Rapper sind Bestseller. Sido ist der berühmteste. Der Hit, der ihn bekannt machte, ist der "Arschficksong". Darin besingt er, wie er ein kleines Mädchen, die Katrin, anal vergewaltigt: "Katrin hat geschrien vor Schmerz. Mir hat's gefallen... Ihr Arsch hat geblutet. Und ich bin gekommen."
Die Mädchen schwärmen für Sido. Für die Jungen ist er ein Vorbild. Schon Grundschüler können seine Texte auswendig. "Und die reden nur noch in dieser Sprache", sagt Gabriele Heinemann von Madonna in Neukölln. "Jeder zweite Satz ist: "Ey, ich fick dich in den Arsch.""
Sidos größter Konkurrent ist Bushido. Im vergangenen Jahr ist er mit dem Echo und dem MTV Europe Music Award geehrt worden. Was für Sido der "Arschficksong", ist für Bushido das Stück "Gang-Bang", das so beginnt: "Ein Schwanz in den Arsch, ein Schwanz in den Mund, ein Schwanz in die Fotze, jetzt wird richtig gebumst." Bushido füllt die großen Hallen. Die Konzert-Uniform der Mädchen ist ein T-Shirt mit der Aufschrift "Gang-Bang". Viele Kinder kommen mit den Eltern zu seinen Auftritten. "Ich find den scharf, ich find den scharf, ich find den scharf", schwärmt eine Mutter aus Hohenschönhausen, die mit ihrem zwölfjährigen Sohn vor der Berliner Columbia-Halle auf Einlass wartet. Später stehen Mutter und Sohn mit glühenden Wangen in der Menge, lassen sich von den Bässen durchschütteln und singen aus vollem Hals mit, wenn Bu-shido über alle vorstellbaren Sexpraktiken singt. Ein Junge, weit entfernt vom ersten Bartwuchs, filmt Bushidos Auftritt mit seinem Handy. Zwischen zwei Songs schaltet er die Aufnahmefunktion ab. Auf dem Display erscheint der Bildschirmschoner. Es ist ein Foto. Ein Penis steckt im Po einer Frau.
Sido und Bushido sind Softies, wenn man sie mit Frauenarzt vergleicht. "Bei mir muss es so richtig knallhart sein", sagt er. Seine Songs nennt er "takes". Es sind ins Mikro gebrüllte Vergewaltigungsfantasien. Vergewaltigungen allein, in der Gruppe, mit Schlägen. Wie alle Porno-Rapper hat natürlich auch Frauenarzt einen Gang-Bang-Song. Darin brüllt er: "Alle rauf auf eine Frau." "Die Nutte ist das Fleisch." "Hey Nutte, mach die Beine breit!" "Wir ficken dich, bis dir die Lippen brechen." Seine CDs sind eine Ansammlung solcher Albträume. Davon verkauft er bis zu 10 000 Stück in jedem Monat.
Frauenarzt ist der 28-jährige Vincento de Marcos aus Berlin-Tempelhof, der seine Lehre geschmissen hat und der seine Baseballmütze bis über die Augenbrauen ins Gesicht zieht. Er sitzt vor einem Milchkaffee. Seine Blicke rasen durch das Café. "Also, was in meinen Texten vorkommt, da drauf steht doch jede Frau. Je jünger, je mehr. Normal", behauptet er. Wenn das stimmt, wenn das mehr ist als nur kranke Fantasie, dann müsste Frauenarzt solche Frauen kennen, die diese Sexualität leben. "Klar", sagt er, greift in die Jackentasche, holt das Handy raus und durchblättert das elektronische Telefonbuch. "Nee, die geht nicht, die ist noch nicht mal 16. Da gibt's nur Probleme. Aber hier, die Jessica×, die ist schon 19. Die geht." Das Handy wählt. Jessica kommt.

"Ich bin die mit den zwölfen"
Sie ist klein, fast zart. "Ich bin die mit den zwölfen", sagt sie gleich zur Begrüßung. Zwölf? "Na, das ist mein Rekord. Also bis jetzt." Jessica hatte Sex mit zwölf Männern gleichzeitig. "Und die sind alle gekommen, ehrlich!" Sie ist so stolz. Sie ist die Jessica mit den zwölfen. Sie ist wer.
Aufgewachsen ist sie in einem Dorf in Thüringen, mit ihrer Mutter und den Pornos der Mutter. Sie war die Erste in der Klasse, die Sex hatte. "Das hab ich natürlich sofort rumerzählt. Das war cool." Ihr Lebenslauf: Schule abgebrochen, erste Lehre abgebrochen, zweite Lehre abgebrochen. Derzeit ist sie arbeitslos. Jessica ist ein "Hardcorefan" von Frauenarzt. Sie kennt jede seiner Zeilen auswendig. "Der bringt, was uns bewegt. So ist halt unser Leben."
Auch Werner Meyer-Deters kennt die meisten dieser Texte. In der Bochumer Beratungsstelle der Caritas betreut der Pädagoge Minderjährige, die nicht Opfer von sexueller Gewalt sind, sondern Täter. Es sind fast ausschließlich Jungen. Viele von ihnen müssen stationär in einer Klinik behandelt werden. Am Beginn der Therapie nehmen die Betreuer ihnen die MP3-Spieler ab. "Wir hören schon gar nicht mehr rein, was für Musik da drauf ist", sagt Meyer-Deters. "Wir wissen sowieso, was die alle hören: Sido und diesen ganzen Dreck. Das richtet so viel Schaden an! Das müsste man wirklich aus dem Verkehr ziehen."
Meyer-Deters ist die Endstation der sexuellen Verwahrlosung. Zu ihm kommen die Schwächsten. Es sind Jungen, denen die Eltern keine Werte, kein Rückgrat, keine Kraft vermitteln konnten. Liebe kennen die nicht mal aus dem Fernsehen. Der Schamlosigkeit, den Wirkungen der allgegenwärtigen Pornografie sind diese Jungen schutzlos ausgeliefert. "Viele kommen aus einem Milieu, in dem sie insgesamt verwahrlost aufwachsen. Da ist die sexuelle Verwahrlosung nur ein Aspekt", sagt Meyer-Deters. Sind also nur die Eltern schuld? "So einfach dürfen wir es uns nicht machen", sagt der Pädagoge. "Diese Jungen sind auch ein Produkt einer falsch verstandenen Liberalität in der Gesellschaft insgesamt."

Junge vergewaltigt Schwester
Die Taten, mit denen Meyer-Deters sich auseinandersetzen muss, sind keine Doktorspiele. Es sind ausgewachsene Vergewaltigungen von Tätern, die manchmal noch nicht mal in der Pubertät sind. Jungen vergewaltigen ihre Geschwister, Mitschüler oder Nachbarskinder. Allein oder in der Gruppe. Manche fesseln ihre Opfer, schlagen sie oder missbrauchen sie mit Schraubenziehern. Die meisten sind Mehrfachtäter. Sie werden nicht von einem plötzlichen Drang übermannt. Sie suchen sich ihre Opfer gezielt aus, planen die Taten durch und erregen sich schon vorher an der Fantasie.
Jugendliche Sexualstraftäter sind kein Randproblem. Ihre Zahl hat sich innerhalb eines Jahrzehnts verdoppelt, auf mehr als 4000 im Jahr 2004. Bald wöchentlich berichten Medien über neue Fälle von Kindern und Jugendlichen, die Gleichaltrige sexuell missbrauchen. In jedem fünften Fall von Kindesmissbrauch, so schätzen Kriminologen, sind die Täter selbst minderjährig. Die Kölner Kriminalpsychologin Sabine Nowara hat in einem Forschungsprojekt die Behandlung von mehr als 300 minderjährigen Sexualstraftätern ausgewertet. "Die Gefahr, die in der sexuellen Enthemmung von Kindern und Jugendlichen steckt, ist wirklich besorgniserregend. Und sie wird massiv unterschätzt", sagt Sabine Nowara.
Bei den vielen Jungen, die Werner Meyer-Deters in Bochum behandelt, sind ihm vier Gemeinsamkeiten aufgefallen: 1. "Signifikant ist diese Pornosozialisation, vor allem mit Extrempornos." 2. "Die meisten haben Eltern, bei denen sie einen absolut entgrenzten Umgang mit Sexualität erfahren haben." 3. "Die Eltern stammen oft aus den unteren sozialen Milieus." Nur 30 Prozent der Väter und nur 10 Prozent der Mütter haben eine Berufsausbildung. 4. Sido, Bushido und Frauenarzt.
Im Sommer hat Werner Meyers-Deters viele Stunden mit einem elfjährigen Jungen verbracht. Der hatte seine vierjährige Schwester regelmäßig vergewaltigt und sich dazu mit Pornos in Stimmung gebracht. Zuerst wollte der Junge gar nicht reden. Irgendwann sagte er: "Aber die anderen, die machen das doch auch alle." Die anderen, das sind die im Porno.

stern-Artikel aus Heft 06/2007

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